Hinab in ewige Höhen – Altötting im 19. Jahrhundert, erzählt anhand der Geschichte des heiligen Bruders Konrad von Parzham
Es gibt verschiedene Möglichkeiten seinen eigenen Weg zu finden. Im Nachhinein erweisen sich manche als närrisch, andere als klug und einige zumindest als erfolgreich. Der Weg, den Br. Konrad (1818-1894) ging, erscheint nach wie vor als – nun ja, sonderbar: Als andere Kinder spielten, "spielte" er "Beten" an seinem selbst gebauten Hausaltar; als andere ins Wirtshaus gingen, ging er auf Wallfahrt und Volksmission; anstatt sein Hoferbe anzutreten, trat er den Kapuzinern bei; und als ihn später dann neidische Mitbrüder gar verspotteten, tat Br. Konrad weiter seinen Dienst an der Pforte des Altöttinger St. Anna-Klosters – 41 Jahre lang, oft 18 Stunden am Tag.
Da geht er gerade die Stufen hinab. Im Dioramenbild von Reinhold Zellner steigt er mit der Kerze in der Hand die Treppe hinab in die Gruft unter dem Altarraum der St. Anna-Kirche. Um für seine Mitbrüder zu beten. Nach seinem Tod stieg er auf – zum Volksheiligen, zum Heiligen der katholischen Kirche, zu einem Heiligen, der auch heute noch verehrt wird.
Zweifellos kannte Br. Konrad auch das ganz “normale” “Auf und Ab”, die Höhen und Tiefen im alltäglichen Leben. “Du hast einen harten Dienst an der Pforte”, soll ihn mal jemand angesprochen haben. Br. Konrad aber sagte nur: “In Gottes Namen. Mein Dienst ist wirklich ein Kreuz. Man muss ihn als Kreuz nehmen, dann wird es viel leichter!” Auch die Höhen und Tiefen der Wallfahrt nach Altötting dürften ihm bekannt gewesen sein – die Wunder, mit denen die Wallfahrt nach Altötting begann, das Aufblühen und der erste Rückschlag, die Ereignisse in der Zeit der Reformation, die Installierung der Wallfahrt durch die Fürsten in der Gegenreformation, das Drama des Dreißigjährigen Krieges, die Pracht und der Wahn des Barock. Doch Br. Konrad war kein gelehrter Gottsucher, der die großen Zusammenhänge erforschte, er achtete auf die kleinen, einfachen Dinge des Lebens: “Meine Lebensweise besteht nun meistens darin: lieben und leiden, im Staunen und Anbeten und Bewundern der namenlosen Liebe Gottes zu uns armen Geschöpfen. In dieser Liebe meines Gottes komme ich an kein Ende.” (Brief von 1872).
Br. Konrad lebte im Augenblick. Was genau er in diesen Momenten erlebte, wird sein Geheimnis bleiben. Er schreibt ja selbst: “Es ist genug, da komme ich an kein Ende.” (1872) Es lässt sich nicht so einfach erzählen.
"Der Hansl war schon ein Engel, bevor er ins Kloster gegangen ist"
Überhaupt ist nicht viel Schriftliches von ihm überliefert. Warum auch? Alle Ereignisse um einen herum, die zeitlichen Umstände eines Lebens erscheinen aus der Perspektive des Augenblicks ja doch nur als eine kleine, beiläufige Randnotiz. Er war eben ein Mystiker, schwer zu verstehen.
Aber er war nicht der Welt abgewandt: Da sind die vielen Aussagen von Zeitzeugen. Rund 200 Mal am Tag läutete die Glocke an der Pforte des Klosters und Br. Konrad wies die Menschen nicht etwa ab, weil er alleine mit sich selbst, mit dem Kreuz, mit Gott sein wollte. Im Gegenteil, Br. Konrad bat die Menschen zu sich, darunter viele Kinder. Eines der Kinder schilderte: “Wenn wir an die Pforte kamen, ermunterte Bruder Konrad uns stets zum Gebet und betete selbst mit uns.” Br. Konrad verteilte Brot an die Armen und lieh denen ein Ohr, die jemanden zum Reden brauchten. Viele Hundert Zeugenaussagen betonten die Geduld und die Freundlichkeit des Klosterpförtners. Auch die Menschen aus seinem Heimatdorf Parzham im Rottal äußerten bereits zu Lebzeiten hohen Respekt vor dem jungen Johann Evangelist Birndorfer, wie er mit Geburtsnamen hieß: “Der Hansl war schon ein Engel, bevor er ins Kloster gegangen ist.” Manch eine Aussage erscheint im Nachhinein fast als prophetisch: “Der Birndorfer Hansl wird noch ein Heiliger!” Zumindest galt er vielen als Vorbild: “So sollten wir auch beten wie der Hansl!”
Still betend in einem ziemlich bewegten Jahrhundert
So ähnlich, aber eben nicht ganz so wie der “Hansl”. Beten war freilich eine Selbstverständlichkeit im katholischen Rottal, ebenso der Sakramentempfang, der Rosenkranz, die Wallfahrt, der Marienglaube und die Wohltätigkeit. Hans Birndorfer lebte als gläubiger Mann in einer katholisch geprägten Welt – und in einer katholischen Familie, die ihm viel bedeutete: “Du darfst es glauben. Ich weiß aus Erfahrung, was das gute und böse Beispiel vermag: hätte ich in meiner Jugend kein so gutes Beispiel vor Augen gehabt, ich wäre nicht auf den Weg gekommen, auf dem ich jetzt bin”, sagte er zu einem Mitbruder. Und doch war er ein Außenseiter: Er lebte seinen Glauben intensiver, auch intensiver als viele Mitbrüder, nachdem er mit 31 Jahren ins Kapuzinerkloster eingetreten war.
Still betend und im Dienst an seinen Nächsten lebte der Kapuzinerbruder – in einem ziemlich bewegten Jahrhundert: Als Hans Birndorfer am 22. Dezember 1818 als elftes von zwölf Kindern geboren wurde, hatten die Bayern gerade das Hungererjahr 1816/1817 überstanden und kämpften mit den Folgen der napoleonischen Kriege. Später wirbelten Industrialisierung und Technisierung – wenn im agrarisch geprägten Bayern auch zeitlich versetzt – das soziale Gefüge durcheinander, zwangen viele Kleinbauern und Handwerker zur Flucht in die Stadt, wo sie im Industrieproletariat landeten.
Über allem schwebte die Staatenfrage: Bayern, seit 1818 eine konstitutionelle Monarchie, war Mitglied im Deutschen Bund: 35 deutsche Fürstenstaaten und vier freie Reichsstädte suchten als loser Staatenbund ihren Platz in einem Europa der aufstrebenden Nationalstaaten – mittendrin die Bayern, die sowieso selbständig bleiben wollten, aber nicht so genau wussten wo: in einem großdeutschen Reich mit Preußen und Österreich, in einem “dritten Deutschland” neben den beiden Großmächten (Trias-Idee) oder in einem kleindeutschen Staat. “Wir wollen Teutsche sein und Bayern bleiben”, verkündete mehrmals König Ludwig I. (1786−1868; König von 1825 – 1848). Als die Entscheidung anstand, war König Ludwig II. (1845−1886) unschlüssig: Im Deutschen Krieg 1866 kämpften die Bayern noch an der Seite Österreichs; im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 dann an der Seite Preußens und wurden so Teil des Deutschen Kaiserreiches (1871−1918) – die Regierungsgeschäfte in Bayern leitete fortan Prinzregent Luitpold (1821−1912).
Ein ganz anderer Staat hatte etwa zur selben Zeit nach knapp über 1.000 Jahren aufgehört zu existieren – weil Frankreich im Zuge des Krieges gegen Deutschland seine Schutztruppen abziehen musste, eroberte im September 1870 italienisches Militär den Kirchenstaat und erklärte Rom zur Hauptstadt Italiens – erst im Jahr 1929 erhielt der Vatikan die volle Souveränität über ein sehr viel kleineres Territorium zurück. Eine Folge der Neuordnung Europas seit Französischer Revolution, napoleonischer Kriege und Säkularisation. Vor allem die Verstaatlichung von Kirchengütern war für die Kirche im 19. Jahrhundert eine nie dagewesene Herausforderung: Mit der Enteignung und Säkularisierung von 22 Erzbistümern und Bistümern, 80 reichsunmittelbaren Abteien und über 200 Klöstern im deutschen Reich 1803, drohte die Kirche ihre materielle Basis zu verlieren. Die Kirche versuchte dies nach dem Wiener Kongress 1815 durch Konkordate (völkerrechtliche Verträge zwischen Staat und Kirche) abzuwenden.
Doch nicht Geld allein war entscheidend. Das Beispiel Altötting zeigt es: Die Priester am Wallfahrtsort wurden immer weniger. Schlimmer noch waren die staatlichen Schikanen – am meisten bekamen diese die Orden zu spüren: Bereits 1773 wurden die Jesuiten nach fast 200 Jahren aus Altötting vertrieben; 1802 traf es die Franziskaner – bereits seit 1654 am Wallfahrtsort.
"Ich will auch Kapuziner"
In das nun leerstehende St. Anna-Kloster zogen rund 150 Kapuziner ein – nicht jedoch, um hier zu wirken. Die Kapuziner, im Jahr 1600 von Herzog Maximilian I. nach Bayern geholt, sollten sterben. Sie durften keine Novizen mehr aufnehmen, keine Pilger mehr empfangen, selbst das Predigen in ihrer eigenen Kirche wurde ihnen untersagt.
Die Situation in Altötting war typisch für Bayern am Anfang des 19. Jahrhunderts. Montgelas hatte mit seinen Reformen die Grundlage für den modernen Verfassungsstaat gelegt, das religiöse Leben und das vom Glauben geprägte Selbstverständnis der Bayern aber ernsthaft angegriffen. Die Situation änderte sich erst als 1826 König Ludwig I. den Thron bestieg. Er versuchte den starren Staat mit der Energie der Romantik und mit der Kraft des Glaubens zu beleben. “Ich will auch Kapuziner und Franziskaner”, schrieb der König an seinen Finanzminister, als dieser die Mittel für die Wiedererrichtung von Klöstern als nicht verfassungsgemäß kritisiert hatte. Einer der engsten Berater des Königs war der Theologe und Bischof von Regensburg, Johann Michael Sailer. Als Universitätslehrer vermittelte dieser mehr als tausend jungen Geistlichen ein Welt bejahendes Christentum und die Fähigkeit, sich auf den Alltag und die Probleme der Gläubigen einzulassen. Die Kirche fiel nach der Erschütterung der Säkularisation nicht auseinander, im Gegenteil: Priester und Volk rückten näher zusammen. Die Volkskirche des 19. Jahrhunderts entstand. Die Volksfrömmigkeit erhielt wieder ihren Platz; ausdrücklich verteidigte der Theologe Sailer den Marienglauben und die Wallfahrt.
Altötting ist und bleibt ein guter Platz zum Beten
Für Altötting waren diese Entwicklungen die Rettung in letzter Sekunde. 1824 lebten von den ehemals 150 nur noch 62 Kapuziner. Am 9. November 1826 erhielt der Guardian des Konventes einen königlichen Erlass, der den Kapuzinern die Wiederaufnahme von Novizen gestattete. Als Johann Birndorfer 1850 ins Kloster eintrat, zählte der Konvent bereits wieder 215 Mitglieder. 1853 durfte sich der Orden auch wieder an Volksmissionen und Exerzitien beteiligen. 1874 übernahmen die Kapuziner das St. Magdalena-Kloster und die Wallfahrtsseelsorge in Altötting von den Redemptoristen – diese hatten sich zwischen 1841 und 1873 um die Pilger gekümmert. Eine umfangreiche Aufgabe: Predigten halten, Kommunion spenden, Beichten abnehmen, Andachten und Gottesdienste zelebrieren. Darüber hinaus übernahmen die Kapuziner die Betreuung von Vereinen und Gemeinschaften – u.a. nehmen sie sich seit 1874 der Marianischen Männerkongregation an. P. Cyprian Fröhlich (1853−1931) ist u.a. maßgeblich der Bau der Eisenbahnlinie von Mühldorf nach Altötting zu verdanken – große Pilgergruppen kamen fortan mit dem Zug zum Wallfahrtsort. Ein anderer Kapuziner bewältigte die “Folgen” des neuen Pilgerbooms: Als 1910/12 die St. Anna-Basilika gebaut wurde, war Guardian P. Josef Anton Kessler (1868−1947) die treibende Kraft. Nach wie vor wirken die Kapuziner am Wallfahrtsort. Auch wenn die Anzahl ihrer Mitstreiter schwindet. Mit einem dramatischen Mitgliederschwund müssen sich Orden in ganz Europa und Nordamerika auseinandersetzen.
Viele Höhen und Tiefen hält das Leben bereit. Br. Konrad aber blieb stets optimistisch: “Oh, meine Schwester, der liebe Gott meint es gut mit uns. Er hat uns mit vielen Gnaden überhäuft, die er uns aus lauter Liebe und Barmherzigkeit mitteilt.” (Brief von 1872). Die Wallfahrtsgeschichte haben die Kapuziner und allen voran der hl. Bruder Konrad um ein großes Kapitel bereichert.
Die Wallfahrtsgeschichte – nur eine Randnotiz im Anblick des Herrn: “Ein Blick auf das Kreuz lehrt mich bei jeder Gelegenheit, wie ich mich zu verhalten habe. Da lerne ich Geduld und Demut, Sanftmut und jedes Kreuz mit Geduld zu ertragen. Ja, es wird mir süß und leicht” (1872), schrieb Br. Konrad. Er suchte die Gegenwart Gottes. Nicht das Geschichtsbuch, sondern das Kreuz war “sein Buch”. Und Altötting ist und bleibt ein guter Platz zum Beten. Viele Wege führen dorthin.
Text: Michael Glaß