Alle wünschen sich Frieden, doch wer hat Ohren für die Stille? Nur wer die Stille bemerkt, hört die vertraute Melodie des Alltags – wie sie erklingt, wie sie die Menschen leise improvisieren. Unbekannte Klänge mischen sich unter die vertrauten. Viele Melodien, wenig Ruhe im Konzert vieler Musiker. Dann kommt der Moment, da übernehmen diejenigen die Instrumente, die am lautesten schreien.
Der Kapellwächter mag die Anzeichen nicht bemerkt haben, vielleicht ging er aber einfach nur seiner Pflicht nach – in Reinhold Zellners Großraumbild (Diorama), dem Nachtbild zu Altötting um 1530 im Zeitalter der “Reformation” jedenfalls liegt er in seinem eigenen Blut, niedergeschlagen von Fanatikern. Schon einmal hatte die Wallfahrt nach Altötting einen Einbruch erlebt. Dieses Mal aber ging die Erschütterung tief. Sehr finster hat sich der Künstler die Epoche zwischen etwa 1520 und 1575 ausgemalt, nicht grundlos, wie verschiedene historische Quellen belegen. Eiferer sollen Bürger aufgehetzt, Wallfahrer verspottet, sogar tödlich misshandelt haben. Zwar blieb der katholische Glaube gerade in Bayern tief verwurzelt, doch die Reformation und ihre Auswirkungen gingen auch hier nicht spurlos vorüber; manche marianische Wallfahrt wie die zur “Schönen Maria” in Regensburg fegte der Sturm der Glaubensspaltung hinweg. Auch die Wallfahrt nach Altötting litt, laut Jesuitenpaterund Chronist Jacobus Irsing schien “(…) die andacht nacher AltenOetting erkaltet und (als habe) der gnadenbrunnen der güttlichen wol- und wunderthaten zu fliesen aufgehört.”
Kein einzelnes Ereignis, sondern ein Prozess
Stille. Regungslos liegt der Körper des Wächters im Umgang der Kapelle. Eine Fackel hat ein Loch in das Dach des Umgangs gebrannt. Nur kurz lugt der Mond aus den dunklen Nachtwolken, um die freudlose Szene vor der Kapelle zu beleuchten: Ein an einer Linde festgebundener Bauer wird mit Eiern beworfen, die seine Frau noch unter ihrer Schürze verstecken wollte.
Warum? Welches Ereignis ist groß genug, um das Konzert des Alltags so fundamental zu stören? Kein einzelnes. Die vielen Begriffe aus der Geschichtswissenschaft rund um das endende “Spätmittelalter” (1200−1500) und die beginnende “Frühe Neuzeit” (1500−1800) wie Renaissance, Humanismus, Reformation, etc. deuten bereits an, dass hier kein einzelnes Ereignis, sondern ein Prozess stattgefunden hat – ein ziemlich langer: Die Fixierung der Epochengrenze mit zeitlichen Rahmendaten – der Fall Konstantinopels 1453, die Erfindung des Buchdrucks um 1440/1450, die Entdeckung Amerikas 1493 – klingt noch recht einleuchtend: alles zeitnahe, und vor allem: einschneidende Ereignisse. Der Epochenbegriff “Neuzeit” verliert aber schon an Gewicht, wenn man bedenkt, dass ihn bereits “Humanisten” verwendeten – Gelehrte, die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Italien den Wert antiker Kunst und Philosophie wiederentdeckten. Streng genommen löste erst die französische Revolution im Jahr 1789 die feudale Gesellschaftsstruktur auf, während die Hinwendung zur individuellen, persönlichen Religiosität wiederum schon im 14. Jahrhundert begann – der kirchentreue Gerhard Groote (1340−1384) und die Bewegung “Devotio moderna” suchten lieber aus der stillen Betrachtung der Leiden Christi Kraft zu schöpfen, weniger aus der feierlichen Liturgie; schwerwiegender für die katholische Kirche und ihre Theologie wirkte der “Nominalismus” Wilhelm von Ockhams (1290−1349): nicht allein die Kirche bringe Heil, sondern nur die eigene, bedingungslose Hingabe an Gott, lehrte er; auch die Bibelbewegung gab es lange vor Martin Luther (1483−1576) – Letzterer sollte später all die vielen Elemente aufgreifen und zu einer eigenen Theologie zusammenfügen.
Festzustellen bleibt: Epochale Grenzen lassen sich nicht so einfach festlegen, Veränderungen nicht datieren. In aller Stille warteten die Veränderungen nur auf einen Auslöser, um ins Bewusstsein zu dringen. Selbst Martin Luther wollte anfangs keine neue Kirche schaffen; er prangerte – entgegen der Überlieferung – nicht öffentlich, sondern kirchenintern die Ablasspraktiken der Kirche an und wandelte sich erst im Laufe der Jahre mehr und mehr vom Reformer zum Reformator.
"kirchfahrtern" kein "böß exempl" geben
Und Altötting? Nicht gleich wandten sich die Reformatoren gegen die Marienverehrung, zu tief war und ist sie in der Bevölkerung verankert. Fromm waren die Menschen um 1500 allgemein, Gottesdienste waren gut besucht, rege nahmen die Menschen an kirchlichen Festen teil – vom heiligen Klemens Maria Hofbauer (1751−1820) stammt die These, dass die Reformation gekommen sei, “weil die Deutschen das Bedürfnis hatten und haben, fromm zu sein”. Die vielen Missstände im Klerus schreckten dann eben auch den Pilger ab, der kilometerweit Votivgaben nach Altötting gebracht hatte. Der Befehl Herzog Wilhelms IV. (1493−1550) in der Stifts- und Kapellordnung für Altötting im Jahr 1517 an “Unser dechant und all andere chorherrn und caplän” zu einem “zichtigen wandel”, um “kirchfahrtern” kein “böß exempl” zu geben, kam dann aber schon zu spät. Die Verquickung von Adel und Kirche spielte den Reformatoren in die Hände.
Wenn in Altötting und Burghausen u.a. ein ausgetretener Mönch namens Matthias Seidenatter mit Büchse und Seitengewehr bewaffnet das Landvolk für die Reformation begeistern konnte, dann auch, weil dem Adel die Verarmung der Bauern aufgrund steigender Abgabelasten gleichgültig zu sein schien. Der Bauernaufstand (1524−26) kündigte sich an. Lange waren sie still, die Bauern, nun wehrten sie sich.
Wie wirkten unter diesen Umständen die provokanten Fragen der Reformatoren auf Bauern, die zu den treuesten Pilgern zählten? “Wozu beichten, wenn nur Gottes Gnade zählt und nicht das Sakrament? Wozu gemeinsam pilgern, wenn jeder für sich selbst beten kann? Warum zu Maria beten, wenn nur die hl. Schrift zählt, die jeder für sich studieren kann?” Die Fragen hallten noch lange nach, sie hallten u.a. in den Köpfen der Menschen, als der Dreißigjährige Krieg (1618−1648) begann. Auch heute noch – 500 Jahre danach – zerbrechen sich christliche Theologen den Kopf darüber, wie man gemeinsam ökumenische Gottesdienste feiern kann.
Nach dem Tode ...
Der Kapellwächter in Zellners Bild hatte nach der Auseinandersetzung keine Zeit mehr darüber nachzudenken, wer nun Recht hat – die Lehre Luthers oder die katholische Lehre. Über einen zentralen Punkt gibt es wenigstens keinen Streit zwischen den christlichen Konfessionen: Nach dem Tode tritt der Mensch seinem Schöpfer gegenüber und verweilt – in der ewigen Ruhe.
Diesseits der ewigen Ruhe tobt das Leben, marschieren auch die Pilger. Die Wallfahrt nach Altötting jedenfalls ist noch lange nicht zur Ruhe gekommen. Ein Kurfürst, Maximilian I., sorgte für den nächsten großen Aufschwung.
Text: Michael Glaß