An einem Herbsttag im Hungerjahr 1817 – Altötting zwischen Aufklärung, Säkularisation und katholischer Erneuerung
Hätten die Pilger nicht so laut gebetet und gesungen, die feinen Damen und Herren hätten sie womöglich gar nicht bemerkt. Märchenhaft, der Herbsttag im Hungerjahr 1817 – ein Tag, um alles um sich herum zu vergessen, ein Tag, den man für sich haben mag.
Die feuchte Herbstluft glitzert im Licht der Sonne, erfrischt die Lunge und weckt den Geist. Mit jedem Atemzug entfaltet sich der Duft von Gräsern, Moos und Laub, schleicht fordernd in den Gaumen. Ein perfekter Tag für die Jagd. Die feine Gesellschaft (links) im Dioramenbild von Reinhold Zellner jedenfalls hat sich ein idyllisches Fleckchen Erde ausgesucht, um die erfolgreiche Hatz auf Hirsch und Wildschwein im Holzland mit einem Gläschen Wein zu begießen. Die Sonne strahlt ihr Licht auf einen Baldachin aus Blättern und lässt sie bunt leuchten – in orange und weinrot, gelbgrün und goldbraun. Ein Platz zum Verweilen, den Blick auf das idyllische Panorama unter der Anhöhe gerichtet, auf das Inntal und auf die Alpen am Horizont.
Die Militär-Patrouille (Bildmitte), die da unten am Winhöringer Jagdschloss vorbei marschiert – sie weckt zwar böse Erinnerungen an die letzten Jahre, an die Koalitionskriege zwischen 1792 und 1815 zwischen Frankreich und seinen europäischen Gegnern – doch die Soldaten tun ja nur ihre Pflicht. Aber müssen denn ausgerechnet jetzt diese Pilger auftauchen? Anstatt die schöne Aussicht zu genießen, fallen sie auf die Knie – nur weil sie von der Ferne das kleine Altötting erkannt haben. “Wie kommt ihr überhaupt hierher?” Es herrscht Hunger überall im Land. Der Krieg hat viele Arbeiter genommen. Was der Krieg von der Ernte ließ, das vernichtete das kalte Frühjahr. “Habt ihr denn nichts Besseres zu tun?”
"Wenn Sie, mein trauter Stadtphilosoph ..."
Es trifft sich, dass ausgerechnet ein “aufgeklärter” Professor, ein Historiker und Schriftsteller, Lorenz von Westenrieder (1748−1829), den Pilgern in seiner Beschreibung einer Wallfahrt nach Altötting zur Seite springt: “Wenn Sie, mein trauter Stadtphilosoph auf Ihre Landparthien, auf Ihre Badereisen im Sommer, auf Ihr Fuchsklopfen im Herbst, auf Ihre Schauspiele, Dineen und Soupeen sich freuen, (…): darum soll der Landmann, (…), nicht auch die Erlaubniß haben, sich auf (eine) Wallfahrt zu freuen?”
Westenrieder, der Geschichte vor allem aus der Perspektive des Volkes erforschte – er kannte die Bedürfnisse der einfachen Leute. Er wusste auch, dass das Pilgern eben gerade in Zeiten der Not Tradition hat. Die Pilger kamen, als Kurfürst Max Emanuel gegen die Türken zu Felde zog und auch nach dem spanischen Erbfolgekrieg (1701−1714) – fein säuberlich listeten die Altöttinger Kapellverwalter in ihren Almosenbüchern 1715 die “(…) under die alhero khomente Pilger, arme Kirchfahrter und andere arme Persohnen ausgethailten Allmosen” auf. Auch während des Österreichischen Erbfolgekriegs (1740−1748) hielt das Mirakelbuch der Zeit ausdrücklich fest, dass “vill (…) in diesen Landen zu Bayern (…) wundersame Bewahrung erflehet und genossen” – auch wenn kaum jemand dazu in der Lage war, Gaben zu bringen. Die Kapellverwaltung befand sich in finanziellen Nöten, 1745 musste sie Kurfürst Max III. Joseph um Erlaubnis bitten, Schatzstücke zu veräußern, um ihren Beamten den Sold auszahlen zu können.
Eine viel schwerere Bewährungsprobe aber hatte die Wallfahrtsstadt Altötting in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bestehen: Nicht äußere, finanzielle Nöte, sondern grundsätzliche Kritik an der Wallfahrt belasteten Altötting im “Zeitalter der Aufklärung”. Der Staat mahnte unter anderem: “Das lange Gehen, vor allem bei Sonnenhitze, schwächt die Gesundheit der bäuerlichen Bevölkerung und gibt ihr, besonders wenn die Wallfahrten an Werktagen durchgeführt werden, zu wenig Zeit für die Feldarbeit, beeinträchtigt also das Interesse des Staates.” Auch manch Landpfarrer beschwerte sich, “daß die Wallfahrten das nöthige Zutrauen der Pfarrkinder gegen ihren Pfarrer mächtig schwächen, und sogar eine gewisse Art von Gleichgültigkeit gegen die Pfarrkirche hervorbringen (…)”.
Die Aufklärung hat "ihr" Zeitalter nie vollends beherrscht
Es waren typische Argumente für eine Zeit, in der die Vernunft den Ton angab. Aber es waren wie das Beispiel Westenrieder zeigt auch Anhänger der sogenannten Aufklärung, die den Volksglauben verteidigten.
Die Aufklärung war nicht per se kirchen- oder religionsfeindlich. Sie ließ durchaus Platz für den Offenbarungsglauben – nur vernünftig sollte er eben sein, bereinigt vom “Aberglauben”. Gerade in Bayern hatte die Aufklärung ein gemäßigtes Gesicht; viele Mönche und Ordensleute zerbrachen sich in den Konventen den Kopf, wie sich Religion vernunftgemäß begründen lässt. Auch Adel und Bürger diskutierten mit Klerikern – in Salons und Kaffeehäusern. Wenn im Zuge der Aufklärung die Wallfahrt und der Volksglaube kritisiert wurden, dann auch, weil die geistige Elite den Bezug zum Volk verlor.
Dennoch: Die Aufklärung hat “ihr” Zeitalter nie vollends beherrscht – neben ihr lebten viele Geistesströmungen wie Neuhumanismus und Klassizismus, Romantik und Naturphilosophie – und auch die barocke Frömmigkeit lebte fort. Und doch hat die Aufklärung der Epoche ihren Namen gegeben – weil sie einen Prozess in Gang setzte, der das Denken heute noch prägt und in alle Bereiche der Gesellschaft und Politik hineinreicht. Dabei war die Bewegung nicht homogen, auch wenn dies der Epochenbegriff nahe legt. Es lag ihr kein philosophisches System zugrunde. Was die “Aufklärer” einte, war die Überzeugung, dass Menschen ihr Schicksal selbst beeinflussen, ihre Welt gestalten und positiv verändern können, wenn sie nur ihren Verstand und ihre Vernunft gebrauchen. Aufklärung ist ein gedanklicher Prozess – ein Prozess, der die freie Meinungsäußerung und die Diskussion voraussetzt und auch den Streit erlaubt – ein Prozess, der im 18. Jahrhundert begann, aber da längst nicht endete.
Es waren gesellschaftliche Erschütterungen, die diesen Prozess auslösten – konfessionelle Bürgerkriege, sich verschärfende Ständekämpfe und immer weiter ausgreifende Staatenkonflikte. Mehr Freiheit forderten die Verfechter der Aufklärung, Bürger- und Menschenrechte waren ihr Ziel. Dass der Erklärung der Menschenrechte im Zuge der Französischen Revolution 1789 erneut Terror und Krieg in den Jahren danach folgen sollten, bedauerten nicht zuletzt die Vertreter der Aufklärung. Und auch wenn die Aufklärung die geistige Grundlage für die sogenannte Säkularisation lieferte – die erschütternden Folgen der staatlichen Reformen hatten auch die meisten Gelehrten überrascht.
Säkularisation: Bei der Aufhebung der Klöster ging Montgelas besonders rücksichtslos vor
Die Zeit um die Wende zum 19. Jahrhundert war dramatisch bewegt. Niemand konnte ahnen, dass es dem Grafen Maximilian Montgelas (1759−1838) gelingen sollte, Bayern nach Österreich und Preußen zur stärksten politischen Kraft unter den deutschen Mittelstaaten zu machen – in einer Zeit wirtschaftlicher Not und Revolutionsgefahr, als fremde Truppen viermal das Land überschwemmten und als Bayern ständigen Annexionsversuchen Österreichs ausgesetzt war. Durch sein taktisches Bündnis mit Napoleon im Jahr 1805 konnte Montgelas für Bayern die Erhebung des bayerischen Kurfürsten zum König und bedeutende Gebietsgewinne erreichen. Als Minister des Königs beherrschte er die Regierungspolitik und ermöglichte mit seinen Reformen nach dem Vorbild des napoleonischen Frankreichs den Übergang Bayerns zum Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts. Aus einem lockeren Verbund vieler kleiner, ungleich entwickelter und unterschiedlich verwalteter Fürstentümer schuf Montgelas einen modernen Staat.
Als im Zuge der Säkularisation die geistlichen Fürstentümer unter die weltlichen Staaten aufgeteilt wurden, erfolgte dies ohne großen Widerspruch der Bevölkerung; selbst Kurie und Bischöfe protestierten nur verhalten – ebenso wie die kleinen weltlichen stellten auch die geistlichen Fürstentümer nur Konglomerate verschiedener Herrschaftsrechte dar und hätten sich gegen die großen, modernen Verfassungsstaaten nicht behaupten können.
Dieser Schritt hatte sich angekündigt – lange vor Montgelas unter den Wittelsbachern: Um die erdrückende Wirtschaftsmacht der Klöster einzudämmen – sie besaßen mehr als die Hälfte allen Grund und Bodens –, schob Kurfürst Karl Albrecht bereits 1741 die Hauptlast für die Armee den Klöstern zu; sein Nachfolger Max III. Josef schränkte 1764 den kirchlichen Vermögenserwerb ein und stellte 1769 das kirchliche Vermögen unter strenge Staatsaufsicht. Auch der zweite Schritt der Säkularisation, die Auflösung von Kirchengütern, war noch vor Montgelas vorbereitet worden. Hauptgrund für die Durchführung war schließlich die finanzielle Situation, die aufgrund der Koalitionskriege und der anstehenden Feldzüge mehr als angespannt war.
Das Ausmaß dieses Schrittes aber war fatal: Bei der Aufhebung der Klöster ging Montgelas besonders rücksichtslos vor – ohne, dass dieser Schritt für den Staatsaufbau nötig gewesen wäre. Beim Klostersturm 1803 wurden Mönche mit dürftigen Pensionen in die Welt hinausgeschickt, während der Staat Kirchen und Klöster ausplünderte und alles, was zu Geld zu machen war, unter den Hammer brachte – Gebäude und Vieh, Kelche und Messgewänder, Reliquienschätze und vieles mehr.
Auch in Altötting hinterließen Aufklärung und Säkularisation ihre Spuren: So untersagte Österreich 1788 Wallfahrten außer Landes: Während Altötting 1770 noch 230 pilgernde Pfarreien aus dem nahen Nachbarland zählte, waren es 1786 nur noch 160; danach schweigen die Akten. Einen herben Rückschlag erfuhr der Wallfahrtsort, als Papst Clemens XIV. 1773 den Jesuitenorden verbot und in Altötting die Seelsorger fehlten. Die Reformen von Montgelas brachten die Wallfahrt beinahe völlig zum Erliegen. 1801 untersagte der Staat Kreuz- und Bittgänge, große Wallfahrten und viele Volksandachten. Eine Flut von Regierungsverordnungen über Kirche und Kirchenbrauch folgten in den Jahren 1801 bis 1804.
"Hier sieht man von allen Seiten friedliche Waller ..."
Gerade die Radikalität der Montgelas’schen Reformen ließ aber auch viele Anhänger der Aufklärung zurückschrecken. Während der junge Westenrieder gegen alle Hemmnisse wahrer Aufklärung kämpfte, wandte er sich später entschieden dagegen, “alles Herzliche, alles Huld, Trost und Liebe Verbreitendes” auszumerzen. Die Säkularisation zerstörte das geistige Fundament seines Landes. Wenn Westenrieder die Wallfahrt verteidigte, dann auch, weil er wusste, wie tief die barocke Frömmigkeit in der bayrischen Gesellschaft verwurzelt war – und zwar in allen Schichten: Fürsten spendeten prachtvolle Votivgaben in Altötting – zuletzt 1737 Kurfürst Karl Albrecht (1697−1745) den Silberprinz. Zahllose Kirchen und Heiligtümer im ganzen Land wurden im 17. und 18. Jahrhundert neu errichtet oder kostbar ausgeschmückt.
Doch das “Bavaria sancta – heilige Bayern” war nicht nur das Land der prunkvollen Schlösser, der festlichen Kirchen und Klöster, sondern auch das Land der Feldkreuze und Wegkapellen. Nicht hoch genug ist die soziale und kulturelle Funktion des Glaubens einzuschätzen: Kirchen waren nicht nur prunkvolle Stätten, wo das Volk seinen Glauben lebte, sondern vielmehr Heimat für hart arbeitende Bauern, die meist nur an kirchlichen Festtagen zusammenkamen. Die Sonn- und Feiertage gaben dem Leben einen natürlichen Rhythmus von Arbeit und Erholung. Dem religiösen Ernst in der Andacht folgte das gesellige Beisammensein mit Fest und Tanz.
Und wenn sich Landleute auf Pilgerreise nach Altötting begaben, dann suchten sie religiöse Erneuerung, aber auch Ablenkung und Zerstreuung – eine Wallfahrt war die einzige Möglichkeit für die einfachen Bauersleute, wenigstens einmal im Jahr Hof und Dorf für ein paar Tage zu verlassen. Gerade im Gemeinschaftserlebnis, auch im Wandern durch die Natur, konnten die Bauern neue Kraft für den Alltag schöpfen. In diesem Sinne ist Westenrieders Kommentar an die “Stadtphilosophen” zu verstehen, die Feste feierten und Urlaub machten, dem Bauern aber noch nicht einmal eine Wallfahrt gönnten.
Es sind vernünftige Argumente, die Westenrieder hier vorbringt – vernünftige Gründe, sich eingehender mit dem Thema zu beschäftigen. Im Geist der Romantik und katholischen Erneuerung erscheint denn seine Beschreibung einer Wallfahrt nach Altötting: “Hier sieht man von allen Seiten friedliche Waller in verschiedenen Trachten und Gruppen, theils laut bethend, und teils singend zusammen strömen, ganz erweicht und zerknirscht, und voll des innigsten Vertrauens, und des zärtlichsten Frohlockens im Herzen sich beeilen, bald sehen zu können Matrem propitiam. (…) Viele, viele bleiben in Sommernächten vor der Kapelle auf einem Grasplatze knien und liegen, und singen uralte rührende Lieder mit Melodien, welche aus tiefgerührten Herzen kommen, und Herzen rühren.”
Viele Pilger kamen in den Jahren 1816 und 1817, viele Bauersleut und einfache Menschen, die sich vertrauensvoll der Muttergottes zuwandten und sich auch von jagenden und schimpfenden “Stadtphilosophen” nicht abschrecken ließen; Wallfahrer, die trotz Hunger und Pilgerstrapazen neben Maria bestimmt auch die Schönheit von Gottes Schöpfung im Blick hatten – auch und gerade an diesem schönen Herbsttag im Hungerjahr 1817.
Text: Michael Glaß