Das Volk muss draußen bleiben und ist doch nah dran. Anno 1630, hinter dem Kapellenumgang versuchen Neugierige einen Blick ins Innere des Oktogons der Gnadenkapelle zu erhaschen. Stolz hebt der Hartschier die bayerische Rautenfahne in die Höhe, ehrfürchtig kniet der Page mit dem Kurfürstenhut. Johann Tserclaes Graf von Tilly, der treue Feldherr der katholischen Liga, blickt auf das in ein feierliches Barockkleid gewandete Gnadenbild. Kurfürst Maximilian I. kniet auf dem roten Teppich, mit einem seligen Lächeln im Gesicht, seinen Blick auf den Boden gerichtet. Gleich wird ihm Stiftspropst Franz Wilhelm Graf von Wartenberg das Gnadenbild zum Kuss reichen. Auch wenn die Menschen vor der Kapelle das Geschehen nicht direkt sehen können, sie können es sich vorstellen, sie sind dabei.
Viel ist passiert, seit der Konflikt um den rechten Glauben ausbrach. Der konfessionelle Streit hat sich nicht etwa schlichten lassen, sondern einen Krieg ausgelöst – genauer: mehrere Kriege, die so dicht aufeinander folgten, dass sie bereits den Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts als ein einziger, Dreißigjähriger Krieg (1618−1648) erschienen. Aber jetzt ist das Jahr 1630. Der protestantische König Christian IV. von Dänemark und Norwegen hat aufgegeben und den Lübecker Frieden (1629) unterzeichnet. Bayern ist schon lange wieder katholisch und der Kurfürst, Maximilian I., der große Förderer des Marienglaubens, der Wallfahrt und der Wallfahrtsstadt Altötting im Besonderen – er ist zu Besuch bei Unserer Lieben Frau.
Gerade hat Maximilian I. als Sprecher der Fürsten auf dem Regensburger Kurfürstentag (Juli-November 1630) einen Sieg errungen – Kaiser Ferdinand II. musste seinen Feldherrn, seine große Stütze – den “lästigen Söldner” Wallenstein – entlassen; auch die Königswahl seines Sohnes Ferdinand war gescheitert. Der politische Zwist zwischen Fürsten und Kaiser – in Altötting kaum spürbar. Obwohl politisch geschwächt, hat auch Kaiser Ferdinand II. erst kürzlich auf dem Heimweg vom Regensburger Kurfürstentag den Wallfahrtsort besucht und sich der Gnadenmutter “mit herrlichen und königlichen schanckungen gantz freygebig und liebreich erzeigt”. *
Draußen wartet das Volk auf seinen Fürsten Maximilian I., weiter draußen droht der nächste Krieg, rüstet sich die protestantische Union zum Gegenschlag – weit weg.
Kronen, Zepter und Verordnungen
Nah war dem Pilger Maximilian Altötting. “Ein kayserliche cron” setzte er der himmlischen Herrin aufs Haupt und ihrem Kind “ein inful (Mitra) von dreyfacher cron, wie die päbst zu tragen pflegen (ähnlich der päpstlichen Tiara)” – allein für die Madonnenkrone verarbeitete der Goldschmied 940 Diamanten und Rubine sowie 790 orientalische Perlen; darüber hinaus steuerte Maximilian I. zwei “gleichförmig perl- und edelstein besetzte goldene Zepter” bei (die beiden Kronen wurden 1786 verkauft, die Zepter blieben erhalten). Auch wenn er dem Gnadenbild diese Gaben vermutlich erst im Jahr 1637 (Kronen) und 1639 (Zepter) opferte – der Kurfürst kam nicht erst als Bittsteller in schweren Zeiten nach Altötting.
Bereits ein frühes Schatzinventar von 1625 zählt wertvolle Gaben des Herzogs und Kurfürsten auf. 1608 und 1649 erließ er für die Gnadenkapelle eine neue Kapellordnung. Seit seinem Amtsantritt 1597 war der Kurfürst regelmäßiger Gast im Wallfahrtsort – seine erste Regierungshandlung war eine Fußwallfahrt nach Altötting, die er noch oft wiederholte. Wie tief seine Marienfrömmigkeit war, beweist sein Blutweihebrief an die Gottesmutter 1645 – als erster Herrscher Bayerns weihte er sich Maria. Ausdrücklich erklärte Maximilian I. die Mutter des Erlösers zur Schutzherrin Bayerns; den Titel “Patrona Bavariae” erhielt die Gottesmutter vermutlich im Jahr 1615.
Sein Ziel war ein katholisch-konfessioneller Staat, und wie ernst es ihm mit diesem Anliegen war, beweisen die vielen Verordnungen, die das religiöse Leben festigen sollten: Er führte die Sakramentsprozessionen an Donnerstagen ein, er überwachte die Fastengebote und die Sonntagspflicht, er verpflichtete jeden zum Tragen eines Rosenkranzes, alle Beamten zum morgendlichen Besuch der hl. Messe; “Kammerfensterln” war verboten, Tanzen nur an Sonn- und Feiertagen erlaubt und auch da nur zu bestimmten Zeiten und in sittlicher Manier.
Von Jesuiten erzogen, blieb Maximilian I. dem Orden lebenslang verbunden: er schenkte ihm Kollegien u.a. in Landshut und Burghausen. Aber auch die anderen Orden profitierten; besonders verbunden schien Maximilian I. dem damals jungen Kapuzinerorden: Er holte ihn nach Bayern und machte ihn zum Volksorden schlechthin; Laurentius von Brindisi (1559−1619) war einer von Maximilians ersten Diplomaten. Das geistliche, vom Kirchenbarock geprägte Bayern hat in der Regierungszeit Maximilians seinen Ursprung.
Vom Würfelspiel zur Glaubenserneuerung
Vom raschen Aufblühen der Wallfahrt (um 1500) überrascht, vom konfessionellen Konflikt (um 1530) überrumpelt, war Altötting um 1630 zum religiösen Zentrum Bayerns, die Wallfahrt zu einer von der Obrigkeit geförderten und geschützten Institution geworden. Wie kam es dazu?
Erst 80 Jahre war es her, dass der junge bayerische Herzog Albrecht V. (1550−1579) die Entscheidung über die Frage nach der Konfession seines Volkes vom Ausgang eines Würfelspiels mit dem Kurfürsten August von Sachsen abhängig gemacht haben soll – bis der Franziskaner Wolfgang Schmilkhofer den Spieltisch umstieß und dem Spuk ein Ende bereitete. Eine Legende, die in die Zeit passt: Vergeblich hatte sich Kaiser Karl V. (1500−1558) um die konfessionelle Einheit des Reiches bemüht. Mag Martin Luther beim Volk viel Respekt verloren haben, als er damals die Bauern beim Aufstand 1524/1525 einfach fallen ließ und sich mit seiner Schrift “Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern” auf die Seite der Obrigkeit stellte – die zum Frieden ausgestreckte Hand Karls V. aber hatte er schon beim Reichstag in Worms 1521 ausgeschlagen. Stattdessen traten immer mehr Fürsten zum Protestantismus über – ob lutherisch oder reformiert: Landeskirchen traten mehr und mehr an die Stelle der Idee freier Gemeindebildung und freier religiöser Entscheidung. Die Reformation wurde verordnet, der Glaube und die Kirchenfrage wurden zum Politikum, zur reinen Verhandlungssache auf Reichstagen; der Augsburger Religionsfriede schließlich besiegelte die konfessionelle Spaltung im Jahr 1555.
Auch vor diesem politischen Hintergrund ist zu verstehen, warum sich Herzog Albrecht V. vom gleichgültigen Zauderer zum katholischen Glaubenserneuerer wandelte. Doch fiel in seine Regierungszeit auch die Erneuerung der katholischen Kirche, die lang ersehnte Antwort der Kirche auf die Reformation im Konzil von Trient (1545−1563). Lange hatte sich die Kirche Zeit gelassen, zu lange für die Bemühungen Kaiser Karls V. Umso tiefgreifender aber war die innerkirchliche Besinnung für die Kirche selbst – nicht die Kritik und die Theologie der Protestanten, nicht die Politik standen im Vordergrund, sondern allein die rein sachliche Erörterung des eigenen Lehramtes, der katholischen Glaubenslehre.
Wallfahrt nach Altötting blüht neu auf
Diese Besinnung auf die eigenen Wurzeln zeigte schon bald Früchte: Selten brachte die Kirche so viele Heilige hervor wie in den Jahren nach dem Konzil – Papst Pius V. (1566−1572) und Karl Borromäus, Erzbischof von Mailand (1560−1584) sind nur zwei berühmte Beispiele einer langen Liste, der mit u.a. Filippo Neri (1515−1595), Teresa von Ávila (1515−1582) oder Franz von Sales (1567−1622) vor allem auch mehrere Ordensleute angehörten. Die Orden blühten im Zuge von Reformen regelrecht auf.
Und so blühte auch die Wallfahrt nach Altötting neu auf, kräftig unterstützt von der Obrigkeit: Die “Albertinische Schenkung” vermachte der Herzog der Gnadenmutter, nachdem er auf dem “Würmsee” (Starnberger See) ein “ungestüm ungeheures Wetter (…) mit donner, plitz, erschröcklichen grossen entstandenen wind und regen” überlebt hatte: Altartuch, 21 Silberstatuen, ein Goldkelch, ein vollständiges Festornat, etc. – die Liste der im Stiftungsbrief vom 25. März 1571 aufgelisteten Weiheopfer an die Gnadenmutter ist lang, der Wert der Gaben unschätzbar hoch.
Jesuiten kommen nach Altötting
Alljährlich pilgerte auch Albrechts Sohn und Nachfolger, Herzog Wilhelm V. der Fromme (1579−1598) nach Altötting und festigte die Wallfahrtstradition u.a. mit der Gründung der Erzbruderschaft “Mariae zu Alten Oetting” – viele weitere Bruderschaftsgründungen folgten, auch die Gründung der Marianischen Männerkongregation 1599 fällt in diese Zeit. Vor allem stärkte Wilhelm V. die Seelsorge in Altötting: 1591 gelang es ihm, die ersten zwei Jesuiten nach Altötting zu holen; schließlich ließ er “St. Magdalena (Jesuiten-)kirch und hauß der societät Jesu daselbst” (1592−1596) errichten.
Religiöses Brauchtum blühte auf, derweil verdunkelte sich die politische Situation. “Zwaintzig fürstliche persohnen (…, kamen) gleichsamb als auf einem reichstag (…) zu Alten-Oetting” im Jahr 1607 zusammen. Maximilian I. weilte damals zweifellos in Altötting, mit dabei vermutlich auch seine Brüder Erzbischof und Kurfürst Ferdinand von Köln sowie Herzog Albrecht VI. Über den konkreten Anlass des Treffens ist nichts überliefert, die politischen Umstände aber dürften für reichlich Diskussionen gesorgt haben und gaben auch Anlass für eine Wallfahrt: Im selben Jahr wurde über die freie Reichsstadt Donauwörth die Reichsacht verhängt und Maximilian I. führte sie gewaltsam zum katholischen Glauben zurück. Es folgten die Gründung der protestantischen Union 1608 und die Gründung des Gegenbündnisses, der katholischen Liga 1609.
Der Krieg naht
Die ersten Kriegsjahre erlebte Altötting als Jahre des Sieges, trotz erster Feldzugnot. Der Sieg der katholischen Liga in der Schlacht am Weißen Berg in Prag am 8. November 1620 wurde “Maria vom Siege” geweiht; ein Ruhmestitel, der im Laufe der Kriegsjahre noch oft zu hören war. Der erste Altötting-Pilger nach der Schlacht soll “Martin Schenck, ain Soldat von Ereshaimb zwo meil von Dillingen” gewesen sein: Als der am linken Fuß schwer verwundete Soldat sein Wallfahrtsgelübde eingelöst hatte, soll er “ohne hilff der krucken wiederumb alle sein weg und steg” gegangen sein. Viele Pilger folgten, lösten ihr Gelübde ein und brachten zahlreiche Gaben.
Der berühmteste Pilger und Weihespender aber war der Kurfürst selbst. Dabei ging es ihm nicht nur um reine Äußerlichkeiten – der Jesuitenschüler Maximilian I. kannte die Lehren des Ordensgründers Ignatius von Loyola (1491−1546). Wie die Reformatoren stieß sich auch Ignatius an der Kirche, blieb ihr aber treu und gehorsam und verstand dies als Dienst an Christus. Ein Dienst, den er auch in der Zeit der Reformation nicht als Kampf gegen Häretiker interpretierte – mit Liebe und Belehrung wollte er die Menschen auf den rechten Weg führen. Statt neue Lehren zu verbreiten, betonte er die Werte der katholischen Lehre lange vor dem Konzil.
Ob Maria hilft?
Auch Maximilian I. war ein eigener Kopf, hielt sich trotz seiner Stellung aber nicht für übermächtig – über ihm sah er Gott, sah er Maria. Er war bodenständig. Und pflichtbewusst: Obwohl er alles selber bestimmte, prüfte er doch jede Entscheidung mit seinen Räten; engste Mitarbeiter seufzten angesichts des Fleißes ihres Herrn, der ihnen kaum noch Ruhe gönnte.
Doch trotz all seines Pflichtbewusstseins und seiner Gewissenhaftigkeit – Maximilian I. war ein Kind seiner Zeit, seine Herrschaft der reinste Fürstenabsolutismus. Seine Regierungsgrundsätze waren nüchtern: Erst das Kriegsvolk, dann das bare Geld, drittens die Schanzen oder Festungswerker und erst an vierter Stelle die Wohlgewogenheit des Volkes. Es waren die Fürsten, die über den Glauben der Menschen entschieden – Gewissensfreiheit im Sinne von Religionsfreiheit war im 17. Jahrhundert undenkbar, widersprach der Idee absoluter Wahrheit, die sich auch in einer einheitlichen politischen Kultur widerspiegeln sollte. Es waren die Fürsten, die über Krieg und Frieden entschieden. Kurfürst Maximilian I. zog nicht gerne in den Krieg. Als sich aber die Fronten verhärteten, war er entschlossen.
Doch hat ihm Maria wirklich geholfen? War es klug, 1630 in Regensburg Wallenstein wegschicken zu lassen? Jetzt, als die katholische Seite die Protestanten mit einem Restitutionsedikt (1629) provoziert hatte und die Schweden zum Krieg rüsteten?
Vor der Kapelle wartet das Volk auf seinen Fürsten. Der Krieg naht. Das Volk wartet auf das, was passieren mag. Ob Maria hilft?
Text: Michael Glaß
* Zitate von Jesuitenpater und Chronist Jacobus Irsing 1642, 1643 vom Stiftsdechanten Johann Scheitenberger aus dem Lateinischen übersetzt.
Anmerkung: Dass Kaiser Ferdinand II. nach dem Regensburger Kurfürstentag nach Altötting pilgerte, ist historisch belegt. Nicht aber, ob auch Maximilian I. ungefähr zur selben Zeit in Altötting war; auch gibt es keinen historischen Beleg dafür, dass der Kurfürst und sein Feldherr Tilly jemals gemeinsam nach Altötting pilgerten. Das Dioramenbild von Zellner würdigt die Tatsache, dass sowohl Maximilian I. als auch Tilly große Marienverehrer und Förderer der Wallfahrt waren; bereits in seinem ersten Regierungsjahr pilgerte Maximilian I. nach Altötting und kam noch viele weitere Male. Drei Besuche Tillys in Altötting sind bezeugt: 1600, 1624 und 1630 während des Kurfürstentages.