Geschichten sind eigentlich recht harmlos; sie lassen sich erzählen und überliefern, überhören und vergessen, verfälschen oder ausschmücken – kurzum: sie lassen so ziemlich alles mit sich machen. Wer will schon Geschichten trauen? Und doch überdauern manche die Zeiten, setzen sich hartnäckig fest und brennen sich ein in kollektives Gedächtnis. Menschen brechen von überall her auf, marschieren vertrauensvoll einem Ziel entgegen – der Geschichten wegen? "Eigenartig" mag sich manch verständiger Mensch nun wundern. Er recherchiert und schreibt die Geschichten nieder.
Mehr als 150 Jahre waren vergangen, als im Jahre 1643 Jesuitenpater und Chronist Jacobus Irsing über folgende Ereignisse in Altötting 1489 berichtet: * “Ein Baur zu Alten-Oeting führte ein Fuder Habern zu Hauß, setzte sein Söhnlein sechs Jahr alt, auff das Handroß; der fallet von dem Pferdt under den Wagen, wirdt dermassen zertruckt, daß seines Lebens kein Hoffnung mehr verhanden. Man thut ein Gelübd und rufft die Mutter Gottes an, folgenden Tag ist der Knab widerumb gantz frisch und gesund.” Es war dies der Überlieferung nach bereits das zweite Wunder. Schon kurze Zeit davor soll laut P. Jacobus ein “dreyjähriges Knäblein” ertrunken und dann in der Gnadenkapelle auf Fürsprache der Muttergottes wieder zum Leben erweckt worden sein.
Nun fehlt bis heute der wissenschaftliche Beleg dafür, dass sich diese Geschichten genau so zugetragen haben. Historische Umstände mögen gleich in zweifacher Weise den Geschichten einen Nährboden geliefert haben. Die Erfindung des Buchdrucks um 1440/1450 steht exemplarisch für eine sehr widersprüchliche Zeit: Einerseits trug die neue Technik auch zur Verbreitung des Glaubens und eben zur Verbreitung der Wundergeschichten bei, andererseits war es aber auch diese neue Technik und deren Folgen, die viel Unsicherheit schufen: die gewaltigen gesellschaftlichen und geistigen Umbrüche beim Übergang vom späten Mittelalter in die frühe Neuzeit drangen so auch bis in die hintersten Ecken des Landes vor; Hoffnung und Angst, Rationalismus und Wunderbegeisterung wechselten sich ab. Wallfahrten zur Muttergottes jedenfalls waren zu jener Zeit alles andere als ungewöhnlich.
"Waren es echte Wunder?"
“Waren es echte Wunder?”, fragt der langjährige Kapelladministrator Robert Bauer in seinem Buch “Bayerische Wallfahrt Altötting” und antwortet: “Das ist nicht das Entscheidende. Denn an der Überzeugung, am Glauben, dass ein Wunder geschah, entzündet sich das Vertrauen, die begründete Hoffnung auf weitere Hilfe, Heilung, Gnade.”
Mehrfach belegt ist in jedem Fall der Pilgerstrom nach Altötting, der kurze Zeit nach den ersten Wunderberichten eintrat. Und mehrfach belegt sind die Geschichten mitten aus dem Leben, die Pilger über die Jahrhunderte hinweg nach Altötting mitbrachten – vor allem in Form von Votivtafeln, die die Gnadenkapelle schmücken. Mit den Wundererzählungen blühte die Wallfahrt nach Altötting auf, und sie dauert fort.
Text: Michael Glaß
* aus dem Lateinischen 1644 von Stiftsdechant Johann Scheitenberger übersetzt