Wer will schon Geschichten trauen? – Das zweite Wunder von Altötting

Michael Glaß am 30.10.2019

2019-altoettinger-dioramenschau-zweites-wunder-von-altoetting Roswitha Dorfner
Darstellung des zweiten Wunders von Altötting in einem dreidimensionalen Großraumbild in der Altöttinger Dioramenschau; im Vordergrund spielt sich das dramatische Geschehen ab: Erschreckt durch einen grellen Blitz des aufziehenden Gewitters sind die Pferde in wilder Jagd durchgegangen, die Deichsel des mit Getreide hoch beladenen Fuhrwerks ist gesplittert. Der Bauer hält seinen vom Pferd gefallenen und unter den Wagen geratenen Knaben in Richtung Kapelle und ruft die Muttergottes um Hilfe an. Im Hintergrund liegt das nach alten Aufzeichnungen aufgebaute Altötting.

Geschichten sind eigentlich recht harmlos; sie lassen sich erzählen und überliefern, überhören und vergessen, verfälschen oder ausschmücken – kurzum: sie lassen so ziemlich alles mit sich machen. Wer will schon Geschichten trauen? Und doch überdauern manche die Zeiten, setzen sich hartnäckig fest und brennen sich ein in kollektives Gedächtnis. Menschen brechen von überall her auf, marschieren vertrauensvoll einem Ziel entgegen – der Geschichten wegen? "Eigenartig" mag sich manch verständiger Mensch nun wundern. Er recherchiert und schreibt die Geschichten nieder.

Mehr als 150 Jah­re waren ver­gan­gen, als im Jah­re 1643 Jesui­ten­pa­ter und Chro­nist Jaco­bus Irsing über fol­gen­de Ereig­nis­se in Alt­öt­ting 1489 berich­tet: * Ein Baur zu Alten-Oeting führ­te ein Fuder Habern zu Hauß, setz­te sein Söhn­lein sechs Jahr alt, auff das Handroß; der fal­let von dem Pferdt under den Wagen, wirdt der­mas­sen zer­truckt, daß sei­nes Lebens kein Hoff­nung mehr ver­han­den. Man thut ein Gelübd und rufft die Mut­ter Got­tes an, fol­gen­den Tag ist der Knab wider­umb gantz frisch und gesund.” Es war dies der Über­lie­fe­rung nach bereits das zwei­te Wun­der. Schon kur­ze Zeit davor soll laut P. Jaco­bus ein drey­jäh­ri­ges Knäb­lein” ertrun­ken und dann in der Gna­den­ka­pel­le auf Für­spra­che der Mut­ter­got­tes wie­der zum Leben erweckt wor­den sein.

Nun fehlt bis heu­te der wis­sen­schaft­li­che Beleg dafür, dass sich die­se Geschich­ten genau so zuge­tra­gen haben. His­to­ri­sche Umstän­de mögen gleich in zwei­fa­cher Wei­se den Geschich­ten einen Nähr­bo­den gelie­fert haben. Die Erfin­dung des Buch­drucks um 1440/1450 steht exem­pla­risch für eine sehr wider­sprüch­li­che Zeit: Einer­seits trug die neue Tech­nik auch zur Ver­brei­tung des Glau­bens und eben zur Ver­brei­tung der Wun­der­ge­schich­ten bei, ande­rer­seits war es aber auch die­se neue Tech­nik und deren Fol­gen, die viel Unsi­cher­heit schu­fen: die gewal­ti­gen gesell­schaft­li­chen und geis­ti­gen Umbrü­che beim Über­gang vom spä­ten Mit­tel­al­ter in die frü­he Neu­zeit dran­gen so auch bis in die hin­ters­ten Ecken des Lan­des vor; Hoff­nung und Angst, Ratio­na­lis­mus und Wun­der­be­geis­te­rung wech­sel­ten sich ab. Wall­fahr­ten zur Mut­ter­got­tes jeden­falls waren zu jener Zeit alles ande­re als ungewöhnlich.

"Waren es echte Wunder?"

2019-altoettinger-dioramenschau-zweites-wunder-von-altoetting-ausschnitt Foto: Roswitha Dorfner
Altöttinger Dioramenschau: Nahaufnahme der Darstellung des zweiten Wunders von Altötting.

Waren es ech­te Wun­der?”, fragt der lang­jäh­ri­ge Kapel­lad­mi­nis­tra­tor Robert Bau­er in sei­nem Buch Baye­ri­sche Wall­fahrt Alt­öt­ting” und ant­wor­tet: Das ist nicht das Ent­schei­den­de. Denn an der Über­zeu­gung, am Glau­ben, dass ein Wun­der geschah, ent­zün­det sich das Ver­trau­en, die begrün­de­te Hoff­nung auf wei­te­re Hil­fe, Hei­lung, Gnade.”

Mehr­fach belegt ist in jedem Fall der Pil­ger­strom nach Alt­öt­ting, der kur­ze Zeit nach den ers­ten Wun­der­be­rich­ten ein­trat. Und mehr­fach belegt sind die Geschich­ten mit­ten aus dem Leben, die Pil­ger über die Jahr­hun­der­te hin­weg nach Alt­öt­ting mit­brach­ten – vor allem in Form von Votiv­ta­feln, die die Gna­den­ka­pel­le schmü­cken. Mit den Wun­der­erzäh­lun­gen blüh­te die Wall­fahrt nach Alt­öt­ting auf, und sie dau­ert fort.

Text: Micha­el Glaß

* aus dem Latei­ni­schen 1644 von Stifts­de­chant Johann Schei­ten­ber­ger übersetzt

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