"In der Form von 17 illusionistischen Bühnenbildern ist vor Ihren Augen ein Welttheater ausgebreitet. Man hat uns Bayern einer natürlichen Begabung für Spiel und Theater gerühmt. Wo könnte es sich schöner und besser bestätigen als hier, zu Ehren der Gottesmutter 'ad maiorem Dei gloriam'" – So urteilte im März 1959 Dr. Wilhelm Döderlein, Kunsthistoriker und Hauptkonservator im Bayerischen Nationalmuseum München, bei der Einweihung der "Schau". Das Meisterwerk im Gebäude des Altöttinger Marienwerks schuf ein sehr vielseitiger Künstler.
Wie gut, dass wir Menschen uns täuschen lassen. Wäre es anders, der gemütliche Fernsehabend wäre dahin. Keine fließenden Szenen nähmen wir wahr, sondern 25 Bilder pro Sekunde, die über den Bildschirm hageln. Wer könnte sich da noch einbilden, zur Ruhe zu kommen?
Moderne Technik würde nerven, aber auch die schönen Künste wären nur noch halb so faszinierend. Die Dioramenschau in Altötting nur noch halb so lebendig, natürlich, authentisch. So aber entfaltet die perspektivische Darstellung ihre Wirkung, Plastisches und Gemaltes gehen fließend ineinander über, die Phantasie lässt die Szene lebendig werden. Wir schauen aus dem Fenster, hoch droben in der St. Anna-Basilika, hinunter auf die vielen Lichter. Wir beobachten die Prozession, wie sie langsam und andächtig den Kapuzinerberg hinaufzieht zum Kapellplatz. In leuchtenden Kreisen weist sie uns den Weg ins Zentrum, zum Bild Unserer Lieben Frau. Dort thront sie auf einem Altar vor der Kapelle und strahlt mit den Sternen am klaren Himmel um die Wette. Das alles kann man erleben in Altötting, live bei den feierlichen Lichterprozessionen am Samstagabend während der Wallfahrtssaison, oder aber illusionistisch bei einem Besuch in der Altöttinger Dioramenschau, beherbergt im Gebäude des Altöttinger Marienwerks.
Lebendige Geschichte
Insgesamt 17 große, bis zu 3,50 Meter breite und drei Meter tiefe Schaubilder und fünf kleinere Schaukästen lassen die Besucher eintauchen in gelebten Glauben, lassen rund 500 Jahre Wallfahrtsgeschichte lebendig werden. Noch bevor uns die Täuschung durch die perspektivische Darstellung, der Übergang vom Plastischen ins Gemalte auffällt, bemerken wir die vielen kleinen Bilder im Bild: den Pilger bei Beginn der Wallfahrt ab 1489, wie er nach der langen Reise neben dem schweren Holzkreuz sitzt und sich den Schweiß von der Stirn wischt; den Bauern, an einem Baum festgebunden, der in der Zeit der Reformation von religiösen Eiferern mit Eiern beworfen wird; den kleinen Kinderchor, der um 1600 den an der Jesuitenkirche St. Magdalena vorbeiziehenden Pilgerzug empfängt; Kurfürst Maximilian I., wie er im Oktogon der Gnadenkapelle vor dem Gnadenbild kniet; die aufgeklärte Jagdgesellschaft, die sich über vorbeiziehende Wallfahrer beschwert.
Wirklichkeitsnah
Das Wort Diorama stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie “Ich sehe hindurch”. Der Betrachter sieht durch ein Glasfenster auf ein szenisches Bild, auf ein dreidimensionales Raumbild. Nicht nur für den Kunstfreund sind die Altöttinger Dioramen von Interesse, sondern auch für den Historiker: Gebäude, Architektur, Kostüme, Landschaften und Wallfahrtsgeschehen sind an den geschichtlichen Quellen orientiert. Viele Details galt es zu beachten, viele Details, die große Zusammenhänge vereinen und in drei Dimensionen mit Leben erfüllen. Dr. Wilhelm Döderlein, Kunsthistoriker und Hauptkonservator im Bayerischen Nationalmuseum München, erklärte in seiner Festansprache bei der Einweihung der Schau 1959: “Aus der Fülle der überlieferten geschichtlichen Ereignisse einerseits und aus der Fülle der gewirkten Wunder andererseits sollten einzelne besonders bezeichnende heraus gegriffen werden. Der Besucher soll sich dadurch in einen lebendigen Strom gestellt sehen, der seit dem Beginn der Wallfahrt im ausgehenden 15. Jahrhundert bis zum heutigen Tage ununterbrochen fort fließt.” Döderlein fügte hinzu: “In den Raumbildern der ‘Schau’ soll die Gestalt und Lage eines historischen Bauwerks Wirklichkeit werden, bestimmte Landschaften wieder erkannt werden, die dargestellten Menschen müssen im Gewand ihrer Zeit auftreten, sogar die Gesichtszüge bestimmter Persönlichkeiten müssen wiedererkannt werden.”
Ausdrucksstarke Gesichter, naturnahe Landschaften
Rund 450 plastische Figuren im Vordergrund der Bilder wirken tatsächlich authentisch: Die Köpfe – aus Ton modelliert und mit ausdrucksstarken Gesichtszügen versehen – sind durch Drähte mit den ebenfalls aus Ton geformten und anschließend bemalten Armen, Händen, Beinen und Füßen verbunden. Die biegsamen Drähte erlauben eine dynamische Körpersprache und wurden anschließend mühsam mit Stoff umwickelt und kaschiert. Naturnah sind auch die Landschaften mit Bäumen aus präparierten Wurzeln, mit Wiesen aus bearbeitetem Moos und Gräsern; sogar Frühlingsknospen wurden berücksichtigt. Fluoreszierende Farben und Ultraviolettlampen bringen Licht und sogar Feuer auf die Bühne. Malerisch gestaltete Decken und Wände überspringen die Grenzen der plastischen Darstellung und lassen den kleinen Kosmos unendlich erscheinen.
Der Künstler, ein Multitalent
Es ging um kleine Details und große Zusammenhänge. Ein Künstler, der das Kleine wie das Große darzustellen versteht, muss viele Fähigkeiten in sich vereinen. Es war aber auch nicht irgendein Künstler, den Dr. Döderlein damals empfahl. Der Auftrag ging an Reinhold Zellner (1903−1990), ein Multitalent: Wenn der akademische Bildhauer und Kunstmaler nicht gerade Krippenfiguren schnitzte, Bauernschränke bemalte, kleine “Wachserl” fertigte, Illustrationen schuf – u.a. illustrierte Zellner auch den einen oder anderen Roman im Altöttinger Liebfrauenboten –, Kerzen bemalte oder volkskundliche Bilder komponierte, dann beschäftigte er sich schon einmal mit der Dreiteilung des Winkels oder der Quadratur des Kreises. Mit Zirkel und Lineal versuchte er dann das Quadrat zum flächengleichen Kreis zu konstruieren. Eigentlich eine unmögliche Aufgabe, aber für einen vielseitig begabten Perfektionisten eine lockende Herausforderung. Eine Begutachtung der Technischen Hochschule in München bestätigte Zellner damals “die bislang größte Näherungskonstruktion”. Die Ehrendoktorwürde lehnte Zellner jedoch ab. Wer war dieser Künstler?
"Nimm mich mit"
Ein paar Antworten ergeben sich aus Zellners schriftlichem Nachlass. Der Bildhauer und Krippenkünstler betätigte sich auch literarisch und hinterließ der Nachwelt Gedichte, Dramen und Romane – u.a. stammt das Drama “Die Blutsbotschaft” aus seiner Feder. Es erzählt von einem hinkenden Boten in der Zeit des Absolutismus, von einem Mann, der nicht viel zu erwarten hat vom Leben und trotz all der Ungerechtigkeiten nicht den Humor verliert. Humor hatte auch Reinhold Zellner, das erschließt sich aus seinem autobiografischen Roman “Nimm mich mit”. Da erfährt der Leser von der Taufe in der Haidhauser Johanneskirche, “die soll ich nicht ganz so widerspruchslos über mich ergehen haben lassen”. Liebevoll erzählt er von seinen Eltern, denen er selbst die Strafe verzieh: “Ich täte mich überhaupt lieber kräftig versohlen lassen, als dass ich mir das mit anhören muss, wenn Vater und Mutter sich nicht einig werden können über das Strafmaß.”
Der Sohn eines Schuhmachermeisters und einer Schneiderin wuchs in sehr einfachen, zeitweise ärmlichen Verhältnissen auf. An geistiger Nahrung fehlte es ihm aber nicht. Der Titel seines autobiografischen Romans geht auf die gleichnamige Zeitschrift zurück, deren Titelbilder zu historischen Ereignissen Zellner bereits in jungen Jahren faszinierten. Zellner berichtet von dem Gesellen “Donatus”, bei dem er als kleiner Bub viel Zeit verbrachte: “Der Donatus ist ein Streckengänger. Das bedeutet, man vermag ihm – was Gedankengänge anbelangt – auf weite Strecken nicht zu folgen.” Auch wenn der Bub nach eigenem Bekunden einen Erzieher nur “gelegentlich” brauchte, die Bilder der Zeitschrift “Nimm mich mit” ließ er sich von Donatus gerne erklären. Die Gedankengänge des Gesellen konnte nur die Mutter unterbrechen: “Wenn es gar zu weit abseits führt, so eine Erörterung über revolutionäre Bestrebungen, da sagt die Mutter: “Wir leben nicht in Russland.”
Münchner Stadtkrippe und Diorama Bethlehem
Der Bub wuchs auf, absolvierte die Volksschule, begann eine Schreinerlehre, die er wegen der Revolutionswirren nicht beenden konnte. Eine Weihnachtskrippe lenkte die Aufmerksamkeit des jungen Grafen Maximilian von Courten auf das Nachwuchstalent. Kontakte zu vermögenden Kreisen eröffneten Reinhold Zellner ganz andere Perspektiven: An der Staatshochschule für angewandte Kunst studierte er bei Prof. Robert Engels dekorative Malerei und Kompositionslehre. Als akademischer Bildhauer und Kunstmaler schloss er das Studium ab. Es folgten Zweiter Weltkrieg, Gefangenschaft und schließlich karge Nachkriegsjahre als freischaffender Künstler. Ein erster größerer Auftrag an Zellner war die Renovierung der 1913 entstandenen Jahreskrippe der Kirche St. Peter in München; 1953 schuf er die Münchner Stadtkrippe mit 33 Figuren und 28 Tieren, die auch heute noch jedes Jahr zur Adventszeit während des Christkindlmarktes am Marienplatz im Prunkhof des Münchner Rathauses gezeigt wird. Schließlich entdeckte ihn das Bayerische Nationalmuseum, wo er bei der Restaurierung der berühmten Schmederer-Krippensammlung mitwirkte. Zu Zellners bekanntesten unter seinen zahlreichen Werken zählt nicht zuletzt das Diorama Bethlehem, die “größte Krippe der Welt”, im Schweizer Marienwallfahrtsort Einsiedeln. Zellner blieb bis ins hohe Alter hinein künstlerisch aktiv. Er starb 1990 in Neuötting.
Text: Michael Glaß