Das Todeskommando kam im Auto. Unbehelligt passierte der Fahrer des Mörders am frühen Abend die Einfahrt zum Hospital Divina Providencia. Über das leicht ansteigende Sträßchen steuerte er auf die Krankenhauskapelle zu. Dort hielt er an. Das Portal stand offen. Am Altar zelebrierte Óscar Romero gerade eine private 18-Uhr-Messe. Der Scharfschütze blieb im Wagen. Durch die heruntergekurbelte Scheibe drückte er ab. Der Profi brauchte nur einen einzigen Schuss. Tödlich getroffen sackte Romero zusammen. Es war der 24. März 1980. Romero wurde von Papst Franziskus 2018 heiliggesprochen. In vielerlei Kirchen in El Salvador sieht man Skulpturen und Gemälde ihm zu Ehren, der internationale Flughafen trägt seinen Namen.
Die Spurensuche in der Hauptstadt San Salvador beginnt an der Stätte von Romeros tragischem Tod. Das Krankenhaus außerhalb der City gibt es nach wie vor, ebenso die Kapelle. Heute zieht an der Zufahrt zum Spital ein Wächter die Schranke hoch. Ein handgemaltes Plakat heißt „Pilger und Pilgerinnen“ willkommen, gefolgt von einem breiten, bunten Kachelbild des Künstlers Fernando Llort (1949−2018). „Monseñor Romero, offen für die, die leiden”, steht ganz rechts drauf.
Um die Kapelle wachsen Blütensträucher. Ein Gärtner ist mit einer Schubkarre unterwegs. Neben der Fassade fächern sich Palmen auf. Auf der anderen Straßenseite liegt eine Cafeteria, wo sich Ärzte und Pfleger zum Plausch einfinden. Die Dreiecksfront der Kapelle ist im oberen Teil verglast. Das Portal ist weit geöffnet, so wie damals. Am Eingang hängt in einem Schaukasten ein kleiner Lebenslauf des Heiligen. 1917 in Ciudad Barrios geboren, trat Óscar Arnulfo Romero 1931 ins Seminar San Miguel ein, studierte später Theologie in Rom, empfing dort auch das Sakrament der Priesterweihe. Auf die Ernennung zum Sekretär der Bischofskonferenz von El Salvador Mitte der Sechziger Jahre folgte 1970 die Erhebung zum Bischof, 1977 zum Erzbischof von San Salvador. Ab jenem Jahr lebte er im hiesigen Krankenhauskomplex bei den „Hermanas Carmelitas Misioneras de Santa Teresa“, karmelitischen Missionsschwestern.
Beim Eintritt in die Kapelle begleitet eine leichte Brise. Das Innere ist recht nüchtern gehalten, der Altarraum abgesperrt. An der Wand hinter dem Altar hängt ein großes Christuskreuz, daneben steht: „An diesem Altar gab Monseñor Óscar A. Romero sein Leben für sein Volk zu Gott hin.“ Was nicht dort steht, ist das Warum. Jeder Einheimische kennt die schmerzliche Geschichte jener Ära. In politisch-wirtschaftlichen Krisenzeiten hatte 1979 ein Militärregime die Macht übernommen, dem Romero im Sinne von Frieden und sozialer Gerechtigkeit entgegentrat und ein Dorn im Auge war. Kein Soldat müsse den Befehl zum Töten „gegen das Gesetz Gottes“ befolgen, positionierte er sich. Was folgten, waren die Ermordung Romeros auf Weisung des Geheimdienstes und – dadurch letztlich ausgelöst – ein unnachgiebiger Bürgerkrieg, dem bis zu Beginn der 1990er-Jahre zehntausende Menschen zum Opfer fielen.
Vor dem Altar stehen Buketts, halbmeterhohe Kerzenständer, ein Ventilator. Blickt man von hier aus zum geöffneten Eingang, versetzt man sich in Romeros Perspektive. Ahnte er die Gefahr, als draußen das Auto hielt? War er sich bewusst, dem Tod ins Auge zu sehen? Die Entfernung zwischen Täter und Opfer lag bei geschätzten 30 Metern. Heute fahren Autos vorbei. Und der Stimmenhall vom Café gegenüber verfängt sich in der Kapelle.
"Sein Wunsch war es, nahe bei denen zu sein, die leiden"
Romeros Wohnhaus grenzt ebenfalls an das Sträßchen, ein Stück unterhalb des Cafés. Das kleine Anwesen ist nunmehr Museum und wird, ebenso wie ein Bücher- und Andenkenshop, von den Missionsschwestern unterhalten. „Wir sind zu acht“, sagt eine von ihnen, Elvia. Im Vorhof des Hauses steht aufgebockt Romeros Auto, ein Toyota Corona. Im Garten fällt der Blick auf eine Marienskulptur in weißblauem Umhang. Über einer Büste Romeros prangt der Schriftzug „Prophet und Märtyrer“ an der Hauswand.
„Sein Wunsch war es, nahe bei denen zu sein, die leiden“, klärt Schwester Elvia über die Wahl von Romeros Wohnsitz im Krankenhauskomplex auf. Der erste Raum bewahrt seine Privatbibliothek. Darunter finden sich Bücher von Hans Küng und von einem gewissen Karol Wojtyla, aber auch die Betriebsanleitung für den Toyota. Zur Sammlung persönlicher Gegenstände zählen seine Brille, seine Armbanduhr, ein Hut. Der kombinierte Schlaf- und Arbeitsraum ist schlicht und pragmatisch gehalten. Besonders behaglich wirkt er nicht. Über das Bett breitet sich ein gelb-weiß gemusterter Überwurf. Vor der Wand steht ein Schaukelstuhl mit silberglitzerndem Metallgestänge, auf dem Schreibtisch ein Radio, eine Schmerzensmutter, eine Schreibmaschine. Der Zugang ins Bad ist geschlossen, doch der Einblick durch ein Zwischenglas ist möglich: auf eine Mundspülung, Seifenstücke in Dosen, zwei Rasierklingen, den Bademantel auf dem Haken.
Was in dem Haus fehlt, ist die Küche. Stadtführer Dionisio Mejía, der den Chronisten begleitet, weiß: „Die Schwestern kochten für ihn, machten auch die Wäsche.“ Der letzte Raum ist das Gästezimmer, ausgelegt mit kühlem Kachelboden. Besucher blicken in einer Vitrine auf Romeros Führerschein, den Pass, dazu auf die eingerahmte Homilie mit seinen letzten Worten. Wer hierher kommt, muss gefestigt sein. Denn ausgestellt ist ebenfalls seine Kleidung, die er beim Attentat trug. Der Blutstrom ist mittlerweile ausgebleicht, aber noch deutlich erkennbar. Das blaue Hemd zeigt auf Herzhöhe das Loch der Kugel, ganz klein. Vergilbte Fotos zeigen den schwerstens getroffenen Erzbischof und um ihn Schwestern, die zu retten versuchten, was nicht mehr zu retten war. Erschütternde Zeitdokumente sind auch Fotos, die am Tag seines Begräbnisses entstanden, dem 30. März 1980, Fotos einer Massendemonstration des Glaubens, der Trauer, der Solidarität. Bei der Kathedrale kam es zu einem Massaker durch Sicherheitskräfte. Schüsse zerfetzten die Luft, Bomben detonierten. Mehrere Dutzend Menschen verloren ihr Leben.
Auf den Spuren Romeros geht es nun in die Stadt, wo typische Wimmelbilder des Straßenhandels herrschen. Avocados und Ananas wechseln ebenso die Besitzer wie Rattengift, Fliegenklatschen, Klopapier. Lauthals preisen Verkäuferinnen ihre Waren an. Zwei Papayas für einen Dollar. Der Kathedralplatz ist ein großer Freilufttreff, überragt von der Doppelturmfront des Bauwerks, stimmungsvoll beleuchtet bei Dunkelheit. Die Außengitter der Kathedrale sind oben mit Stacheldrahtrollen besetzt. Drinnen führt der Weg hinab in die Krypta zum Grabmal Romeros. Eine Bronzeplastik zeigt ihn liegend. Gläubige nähern sich, fahren mit der Hand darüber, zünden Kerzen an. „Mit der Kirche fühlen“ („Sentir con la Iglesia“), steht auf dem Grabstein. Daneben laden Bänkchen ein, sich niederzuknien. Der rote Stoff ist abgewetzt. Hier darf man sich dem Heiligen noch einmal nah, ganz nah fühlen.
Text: Andreas Drouve