Der Finger Gottes – Wie ein Erlebnis auf seiner Weltreise Theo M. Schlaghecken zurück zum Glauben führte
Mit damals 39 Jahren beschloss Theo M. Schlaghecken, Sicherheit und gutes Gehalt gegen eine Reise ins Ungewisse zu tauschen. Über zwei Jahre reiste er mit dem Motorrad um die Welt. „Heute weiß ich ein klein wenig besser, wer ich bin“, sagt er. Nach 53 Ländern und 100.000 Kilometern wusste Theo: Es geht nicht darum, was dir passiert, sondern darum, was es mit dir macht… Unter anderem fand er durch einen Schicksalsmoment zu seinem Glauben an Gott zurück und entdeckte die „Verlässlichkeit des Zufalls“. Aber lesen Sie selbst.
Fast zwei Jahre war ich schon alleine unterwegs auf meinem Motorrad, auf meiner Reise einmal um die Erde. Und vielleicht musste ich so weit reisen, um dort, fast am Ende der Welt, jemanden ganz besonderem zu begegnen …
Daniel kannte ich erst drei Stunden und doch hatten wir beschlossen, gemeinsam weiterzufahren. Zumindest so lange, bis wir uns gegenseitig auf die Nerven fallen würden. Doch es klappte gut mit uns, und so waren wir auch noch Wochen später zusammen in Südamerika unterwegs. Daniel war sehr entspannt, was den Verlauf seiner Reiseroute anging, und wir wurden uns immer einig. Wir wollten Weihnachten am Ende der Welt, in Ushuaia verbringen.
Sechs Tage waren es noch bis Heiligabend, doch wir konnten uns nicht von Mendoza trennen. Mendoza ist nicht nur eine Stadt im zentralen Westen Argentiniens, sie ist auch mit ihren vielen Bodegas und guten Restaurants ein Eldorado für Weinliebhaber und Gourmets. Wir liebten diesen Ort, doch es half nichts: Etwa dreieinhalbtausend Kilometer waren es noch bis zum Ende der Welt. Dreieinhalbtausend Kilometer durch Steppenlandschaft. Eine Geduldsprobe würde es werden, aber keine besondere Herausforderung. Eine endlose, gerade Straße, flach hindurchgezogen durch trockene, sandige Pampa, sehr gut asphaltiert; es gab kaum Verkehr und genügend Städte und Dörfer zum Übernachten und Tanken. Wir bezahlten für die sieben Nächte, die wir in der Jugendherberge in Mendoza verbracht hatten, und brachen auf.
Drei Tage waren wir schon unterwegs, und etwa zweitausend Kilometer hatten wir schon hinter uns, als wir vom Küstenort Comodoro Rivadavia aufbrachen. Wie an den Tagen davor erwarteten uns etwas mehr als sechshundert langweilige Kilometer und vor allem starker Seitenwind, so stark, dass wir die Motorräder, wie in einer ständigen Kurve, etwas schräg legen mussten, um weiter geradeaus fahren zu können. Der Wind blies sehr gleichmäßig. Das erleichterte das Fahren sehr, denn wäre er böig, würden wir ständig vom Wind aus der Spur getragen und müssten dauernd gegenlenken.
Die ersten dreihundert Kilometer dieses Tages hatten wir hinter uns. Gedankenversunken brummte ich dahin und lehnte mich schon seit Stunden gegen den von links wehenden Seitenwind. Hier und da gab es kleinere Sandverwehungen, und so sah ich, wie Daniel etwa einhundert Meter vor mir einem langgezogenen vielleicht fünfzig Zentimeter breiten Sandhaufen auswich, der quer über unsere rechte Fahrspur verlief.
Vor gefühlten dreißig Minuten hatte ich das letzte Auto gesehen, und so blickte ich – wie leichtsinnig! – auch nicht in den Rückspiegel, als ich dazu ansetzte, auf die linke Spur zu wechseln, um auszuweichen.
Ich verlagerte das Gewicht, so dass die Maschine nach links zog, doch bevor ich die weiße Mittellinie erreichte, spürte ich einen Schlag von links. Eine Windböe. Sie traf mich so heftig, so unvorbereitet, dass ich augenblicklich auf meine Spur zurückgedrängt wurde. Erneut nahm ich Anlauf und versuchte nach links zu wechseln und noch einmal kommt sie mit aller Wucht zurück, die Böe, und ich schaffte es tatsächlich nicht, auf die andere Fahrspur zu kommen.
In genau diesem Moment passierte es. Nur einen halben Meter links von mir schoss ein Auto mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbei, ganz dicht neben mir, überholte mich mit mindestens hundertvierzig Stundenkilometern. Der Sandhaufen war schon sehr nah, ich bremste, doch zu spät. Die Räder rasten durch den Sand. Die Stoßdämpfer schluckten schon viel, doch eben nicht alles. Das Motorrad schlingerte, brach hinten kurz aus, ich drohte zu stürzen, doch dann fing ich die Maschine ab und konnte sie in der Spur halten.
„Shit!“, rief ich in meinen Helm, „Shit, das war knapp!“ Ich hatte weiche Knie und brauchte ein paar Minuten, bis mir klar wurde: Den Sandhaufen hatte ich überlebt. Aber was wäre, wenn ich es geschafft hätte, die Spur zu wechseln? Ich hätte keine Chance gehabt. Das Auto hätte mich gepackt und viel wäre nicht von mir übrig geblieben bei dieser Geschwindigkeit. Eine Kollision mit dem Auto, die hätte ich nicht überlebt, da war ich sicher.
„Früher, da hatte ich noch mit ihm gesprochen, hatte gebetet“
Früher, da war ich Messdiener gewesen und später sogar Mitglied im Pfarrgemeinderat. Da hatte ich noch mit ihm gesprochen, hatte gebetet. Doch auch damals war das Beten schon mehr nach dem Prinzip „Kann ja nicht schaden“. Irgendwann verlor ich den Bezug zu ihm, kümmerte mich nur noch um mein irdisches Leben, ging nicht mehr zur Messe, und das wenige Beten klang in etwa so: „Lieber Gott, das war ein guter Tag, danke. Ich würde mich freuen, wenn ich bald zum Partner in der Firma werden würde, kannst du da vielleicht was machen? Wäre schön, und, ach ja, noch was, beschütze mich, meine Freunde und die Familie. Amen.“
Irgendwann fand ich meine Gebetsleier selbst unerträglich oberflächlich und unbeteiligt. Ich stellte mir vor, wie Gott da oben saß, mir mindestens genauso gelangweilt zuhörte, mit den göttlichen Augen rollte und sagte: „Melde dich wieder, wenn du es ernst mit mir meinst.“
Ich stellte also die Gebete bis auf weiteres ein, schließlich ging es mir gut, und ich schien Gott im Moment nicht wirklich zu brauchen. Ich nahm mir damals vor, mich dann wieder bei ihm zu melden, wenn es wirklich etwas zu sagen gäbe. Jetzt war es so weit.
„Also, emm … vielen Dank erst mal für die Windböe. Und ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich mich so lange nicht mehr bei dir gemeldet habe. Aber irgendwie lief alles so gut, und ich war so sehr mit mir und meinen Plänen beschäftigt.
Du weißt, ich hatte meine eigenen Vorstellungen darüber, wie das Leben zu sein hat, darüber was gut und schlecht ist, darüber, was ‚man‘ tun sollte und was nicht. Fleißig arbeiten, Geld sparen, irgendwann eine nette Frau heiraten, Kinder bekommen, ein Haus bauen, weiter Karriere machen, in Rente gehen, den Lebensabend genießen, sterben. Ganz klassisch war es, eine Blaupause der üblichen Leben. Alles hatte ich schon fertig gezeichnet auf dem Reißbrett meiner Lebensplanung. Scheuklappen setzte ich mir auf, damit mich auch nichts von meinem Weg ablenkte, mich nichts verunsicherte, auch du nicht.
Mein Job lief nach Plan. Eine Frau würde ich im Internet finden. ‚Lovescout24‘ wird mich schon zu meinem Ziel bringen. Ja, auch die Liebe will geplant sein. Gesund bleiben ebenso, daher Fitness-Studio dreimal die Woche. Ja, und Hobbys müssen her. So was gehört schließlich zum Leben.
Work-Life-Balance, liest man ja überall. Also Motorradfahren, Badminton, Sauna. Dann noch etwas Zeit für Freunde, für Essen und für Schlafen, und dann war es voll, mein Leben. Randvoll gefüllt mit all den Inhalten, die ich mir vorgenommen hatte, die ich und andere für richtig hielten, die sauber verankert waren in meinen unumstößlichen Vorstellungen davon, wie ein Leben zu sein hatte.
Ich gebe ja zu, viel Gelegenheit, mir irgendetwas anderes zu zeigen, hast du nicht gehabt. Nirgendwo hatte ich uns einen Platz eingeräumt, in dem ich nicht von meinen Plänen getrieben war. Wo war der Freiraum, die Offenheit, die Bereitschaft, dem zuzuhören, das zu denken, das zu fühlen, was vielleicht völlig von meinen Plänen abweicht? Warum ließ ich es nicht zu? Vielleicht deswegen, weil es mir nicht gefallen hätte, weil es so gar nicht in die viel zu kleinen Förmchen meiner Vorstellung vom Leben passen könnte?
Sag mal, kann es sein, dass du irgendwann mal die Schnauze voll hattest von meinen Plänen, sauer warst, dass ich verbissen daran festhielt, so dass du auf deine Art so richtig laut geworden bist und mich herausgezerrt hast aus dem Gefängnis meiner eigenen Vorstellungen? Ich meine damals, als ich im Wohnzimmer meine Pro-und-Contra-Liste für die Weltreise aufstellte und ich plötzlich gegen alle meine Pläne und völlig unvernünftig beschloss: ‚Just do it.‘ Warst du das, als ich mich damals selbst nicht wiedererkannte?
Und was ist mit den Zufällen? Ich vermute, nichts passiert zufällig, richtig? Und damit meine ich nicht nur so etwas, wie die Windböe vorhin, ich meine einfach alles, was uns passiert. Jede Begegnung, jeder Blick, jeder Atemzug. Nein, ich denke nicht, dass du alles bestimmst und wir nicht selbst entscheiden könnten. Es gibt ihn, unseren ‚freien Willen‘, und es gelingt uns auch, unsere eigenen Pläne zu verfolgen. So weit gehst du nicht. Wir entscheiden, wo wir leben, wohin wir gehen, wen wir treffen. Doch während wir das tun, sprichst du mit uns. Auf deine Art. Durch die zufälligen und ungeplanten Ereignisse und durch die leisen Gefühle in uns, durch unsere ewig flüsternde innere Stimme.
Und dann ist es unsere Entscheidung, ob wir dich, unser wortloses Gefühl, unsere leise Intuition, unsere flüchtige Ahnung davon, wer wir wirklich sind, einfach ignorieren und an unseren Plänen festhalten oder ob wir doch einen Moment still werden, die Gedanken ruhen lassen, uns entspannen, hineinhorchen in uns, spüren, was kommt, und versuchen zu erahnen, was du für uns gedacht hast.
Ich glaube, wir haben sie alle irgendwo in uns, diese Stimme, das ewige Flüstern unserer Seele. Du bist da, immer und für jeden. Es ist nie die Frage, zu wem du sprichst, es ist immer nur die Frage, wer dir zuhört. Spätestens jetzt, nach dieser Aktion mit der Windböe, gibt es für mich den Zufall als einen der großen Weichensteller in meinem Leben nicht mehr. Alles, was passiert, erscheint mir wie die Teile eines großen, für uns nicht überschaubaren Puzzles, die erst später erkennbar auf wundersame Weise präzise auf ihren Platz fallen. Ich glaube, wir vermögen es nicht, die große Einheit dahinter zu erkennen, und beschreiben das Zusammenkommen der Ereignisse nur schulterzuckend, hilflos und mit mächtigem Erstaunen als ‚großen Zufall‘. Der ‚Zufall‘ ist somit vielleicht nur ein künstliches Erklärungskonstrukt, ein dünnes Schleiertuch, das uns schützt vor dem unerträglichen Blick auf unsere immense Ahnungslosigkeit vom zusammenhängenden Großen und Ganzen, das unser Leben und die Welt ausmacht.
Den Dingen aber ihr Geschehen zu ermöglichen und damit dem ‚Zufall‘, also eigentlich uns selbst, eine Chance zu geben, das erfordert vielleicht, das eigene Wollen ein wenig loszulassen, erfordert ein gewisses Maß an Planlosigkeit, damit mehr Luft in unser Leben kommt, damit Freiräume und Landeplätze entstehen, damit uns viel mehr von dem ‚zufällt‘, was für uns gedacht ist. Wir sollten viel öfter die eigene Zwangsjacke unserer strengen Planung versuchen zu lockern und uns dann überraschen lassen, was du uns dort hineinsteckst.
Hilf mir ein wenig, Augen und Ohren offen zu halten, wachsam und achtsam zu sein, damit ich mehr spüre, was mein Leben für mich will.
Bis später … emm, ich meine: ‚Amen‘.“
Getragen von dem Gefühl, nicht allein unterwegs zu sein, war ich auf dem Weg zu meinem Weihnachtsfest. Von diesem Tag an hatte ich einen „inneren Mitfahrer“ und immer dann, wenn mir danach war, dann plauderte ich meine Gedanken einfach in den Helm hinein und tat so, als hörte er mir zu.
Dabei ahnte ich noch nicht, welches Geschenk mich dort am Ende der Welt erwarten würde …
Text: Theo M. Schlaghecken
Buch-Tipp
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Die Verlässlichkeit des Zufalls“. Es ist ein sehr persönliches Buch über eine Weltreise und ihre Auswirkungen – eine Erzählung darüber, wie schwer es dem Autor fiel, diesen Ausbruch zu wagen, wie sehr die Begegnungen mit den Menschen, mit Gefahren und der Armut seine Sicht auf die Welt verändert haben. Und wie schwer es ist, zurückzukommen. Es geht um Schicksale, das Glück und um Gott. Paperback: 14,90 Euro (ISBN 978−3−9819810−0−1), E‑Book: 10,99 Euro (ISBN 978−3−9819810−2−5).